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„Was weiss die Überlieferung schon von uns Frauen?“

Esther und Vashti,
  Dialog einer Versöhnung 

 Es ist wieder einmal Purim. Esther möchte sich mit Vashti ausspre-chen, versöhnen. Sie schickt nach ihr. Vashti überlegt lange, ob sie mit Esther sprechen will, folgt dann aber doch der Einladung.  
 
Vashti, stirnrunzelnd: Was willst du Esther? Brauchst du mich, um an deinem Fest noch mehr als „Retterin der Juden“ triumphieren zu können?

Esther: Unsinn, Vashti! Reden mit dir will ich. Von wegen „Retterin der Juden“ Die Lorbeeren erntete mein Onkel Mordechai. Er wurde Berater des Königs und als Retter gefeiert.

Vashti: Er liess dein Portrait auf die Münzen prägen. Die meisten Frauen bekommen überhaupt keinen Dank, wenn sie für die Männer die Kastanien aus dem Feuer holen. Aber du hast sogar dein eigenes Fest, an dem jedes Jahr wieder deine Geschichte vorgelesen wird.

 Esther: Es ist auch deine Geschichte, Vashti. Es ist unsere Geschichte.

Vashti: Aber du bist die von der Geschichtsschreibung geliebte Heldin, weil du so brav gefolgt hast, und ich bin die böse, ungehorsame, verstossene Frau.

Esther: Die Geschichtsschreiber sagen, dass du recht hattest, nicht nackt vor Achaschweroschs Gästen zu erscheinen. Das Negative erfanden sie, weil du Babylonierin bist und weil du dich deinem Mann widersetztest. Dafür bist du bei den Christinnen als „exemplarische Feministin“ berühmt. Und ich??? Ich stehe für die angepasste Frau. Und sooo gut schreiben die Historiker nicht über mich. Diese endlosen Diskussionen bis heute, ob ich eine Sünderin, unkeusch gewesen sei, weil Achaschwerosch kein Jude war, nerven mich. Ich habe ihn doch gar nicht freiwillig geheiratet. Mein Onkel hatte diese Heirat eingefädelt, damit er nicht länger für mich Waisenkind sorgen musste. Dass er dadurch zusätzlich Einfluss und Macht gewinnen konnte, gehörte auch zu seinem Plan. Hast du Achaschwerosch freiwillig geheiratet, Vashti?

Vashti: Nein, auch ich war Waise und von königlicher Abstammung. Deshalb musste ich eine königliche Mitgift bekommen, und für die wollte mein Vormund etwas zurückerhalten, Ansehen, Macht und politischen Einfluss. Ich war nur eine Figur im grossen politischen Schachspiel. Achaschwerosch war ein junger, strahlender Herrscher und ein kluger Kriegsheld. Bald begann ich ihn zu lieben. Hast du ihn geliebt, Esther?

Esther: Geliebt nein, geachtet und bewundert ja. Er liebte ja auch nur dich, und es tat ihm bis zu seinem Tode leid, dass er auf seine Ratgeber gehört und dich verstossen hatte. Sie wollten ja, dass er dich tötet. Aber das brachte er doch nicht fertig, und so liess er die Ratgeber hinrichten.

Vashti: Seine Ratgeber!! Nichts entschied er alleine, obwohl er gute Entscheidungen fällen konnte. Die Ratgeber nützten die ewigen Saufgelage aus, um ihn nach ihrem Willen zu beeinflussen. Manchmal gelang es mir, ihm nachher den Unsinn wieder auszureden. Aber oft hatten sie es schon so eingefädelt, dass er nicht zurückkonnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Sie hatten Angst vor mir und deshalb musste ich fort. Sie befürchteten, auch ihre Frauen würden nicht mehr gehorchen und sich verweigern.

 Esther: Diese schrecklichen Saufgelage, an denen sie intrigierten und nackte Frauen sehen wollten. Du hattest schon recht, dass du dich geweigert hast.

Vashti: Das wollte er einfach nicht einsehen! Wäre ich gekommen, du weißt ja, was sie dann gewollt hätten, was geschehen wäre. Hätte er mich ihnen verweigert, dann hätten sie ihn getötet und mich sowieso, auch wenn er einverstanden gewesen wäre. Du aber, du hättest wohl brav gefolgt und wärst nackt erschienen?

Esther: Nein! Ich weiss genauso wie du, dass die Frauen nachher verstossen, meistens aber getötet wurden.

Vashti: Also bist du gar nicht so angepasst und folgsam, wie die Überlieferung dich schildert?

 Esther: Die Überlieferung…was weiss die schon von uns Frauen! Nach ihr stiess mich der Engel Michael auf Haman, als er sich vor mir niederwerfen wollte. Dabei habe ich ihm ein Bein gestellt, und so fiel er auf mich, als wolle er mir Gewalt antun, und bei Achaschwerosch prompt in Ungnade.

 Vashti: Das war clever! Aber was dein Onkel Mordechai wollte, hast du doch immer brav getan.

Esther: Er war mein Vormund. Und was blieb mir anderes übrig, da er erst so hochmütig war, Haman die Reverenz zu verweigern und dann zu feige, selbst mit dem König zu sprechen. Die Juden aber wussten, dass ich mein Leben für sie aufs Spiel setzte, da ich das dreitägige Fasten anordnete. Sonst wäre Purim nur das Fest des „Helden“ Mordechai. Wärst du zurückgekommen, wenn der König mich hätte hinrichten lassen?   

Vashti: Nein! Übrigens -  danke dafür, dass du mir manchmal Nachricht gabst, wie es ihm geht.

 Esther: Nicht der Rede wert. Es tat mir nur leid, dass du immer so zurückhaltend warst.

Vashti: Du gabst doch den Befehl, alle Anhänger Hamans zu töten, Das habe ich nie verstanden.

Esther: Überlieferung…mit diesem Befehl wollte Mordechai, dass möglichst viele Anhänger des Bösewichts umgebracht werden und ihn nicht rächen können. Ich hatte nichts damit zu tun.

Vasthi: Warum hast du nichts gegen diese Grausamkeiten unternommen?

Esther: Ich konnte nichts tun. Du weißt doch wie Achaschwerosch und seine Männer waren: Zuerst soffen sie und dann wurden sie aggressiv, mussten zerstören und töten. Wie sieht es eigentlich heute in der Welt aus? Als feministisches Vorbild kommst du doch viel herum.

Vashti: Du bist auch ein feministisches Vorbild. Die amerikanischen Jüdinnen erklärten uns zu „zwei verschiedenen Stadien feministischen Bewusstseins“. Wie es in der Welt aussieht? Es ist wie zu Ahaschweroschs Zeiten: Die Machtlosen werden unterdrückt. Die Mächtigen streben wie früher nach immer noch mehr Macht und intrigieren um sie. Sie halten ebenfalls immer noch Saufgelage ab, werden dabei aggressiv und gewalttätig. Wenn genügend getrunken wurde, dann ziehen sie gegen ihre Feinde, gegen die, die ihnen im Wege stehen, oder die, die anders, fremd sind, anders denken, eine andere Religion haben. Dann trinken sie wieder, Sieger und Besiegte und fallen über die Frauen der Gegner her. Danach werden die Frauen von ihren Männern und Familien verstossen. Wie ging eigentlich die jüdische Geschichte weiter?

Esther: Auch wir wiederholen die Geschichte, mal als Sieger und mal als Besiegte. Wie früher kennen uns viele Nichtjuden hauptsächlich aus Vorurteilen. Wir halten uns immer noch für das „auserwählte Volk“, für das „Licht der Völker“. Dafür halten sich die anderen aber auch. Und schon gibt es wieder Streit. Wir sehnen uns nach Frieden, nach Liebe und können anscheinend doch nicht zum Frieden finden.

Vashti: Dann haben die Menschen also überhaupt nichts aus unserer Geschichte gelernt?

 Esther: Es sieht nicht danach aus. Haben wir beide etwas aus unserer Geschichte gelernt?

 Vashti: Ich denke schon. Wir haben gelernt, dass wir miteinander reden müssen, unsere Vorurteile aussprechen und Fragen stellen, auch wenn sie wunde Stellen berühren. Wir haben gelernt, dass Geschichtsschreibung oft einseitig und tendenziös ist. Wir haben gelernt, dass wir zusammenstehen müssen, gegen Aggression und Zerstörungswahn. Und immer wieder aufeinander zugehen, bis sich die Geschichte einmal nicht mehr wiederholt, bis aus Feinden, Kontrahenten, einander Gleichgültigen Freunde werden.

Esther: Ja, Vashti. Komm, gehen wir jetzt Purim feiern, und dann hinaus in die Welt, Jüdin und Babylonierin gemeinsam. Zeigen wir der Welt, den Historikern, dass Erz- und Erbfeindinnen zu Freundinnen werden können, auch wenn es manchmal lange dauert.

Vashti: Meinst du, die hören auf uns? Aber auch ich denke, wir sollten es versuchen. Was dann wohl die Überlieferung in einigen hundert Jahren über uns berichten wird? Vielleicht weiss sie dann doch mehr über uns Frauen…wir werden es sehen. 

Tanja Kröni 
erstmals erschienen im Israelitischen Wochenblatt am 25. Februar 1994, hier leicht abgeändert.
 

                                   

7. Februar 2012 / 14. Schwat 5772 Ein feministischer Blick auf Purim 

Fröhlich ist es, das Fest der Königin Esther. Doch sie selbst steht nicht wirklich im Mittelpunkt, sondern ihr Onkel Mordechai. Frauen von charedisch bis säkular setzten und setzen sich kritisch mit dieser Geschichte und den beiden Königinnen Esther und Vashti auseinander. Die Christinnen machten aus Vashti ein Vorbild für Feministinnen und werteten Esther als total angepasst ab. In England und den USA begannen bereits anfangs der 1980er auch jüdische Theologinnen sich mit diesen Frauen auseinander zu setzen. In Zürich erschien 1993 ein Artikel von Marianne Wallach zu Esther und Vashti, der bis heute durchaus aktuell geblieben ist.

Vashti und Esther
zwei Königinnen – zwei Stadien feministischen Bewusstseins
von Marianne Wallach-Faller

An Purim wird die Megillat Esther gelesen, in der die Errettung der Juden Persiens durch die jüdische Königin Esther erzählt wird. Da diese Rettung durch eine Frau geschah, wird im Talmud festgelegt: „Frauen sind zum Lesen der Estherrolle verpflichtet, denn sie waren an diesem Wunder beteiligt." (Megilla 4a) 

Kleine jüdische Mädchen verkleiden sich an Purim gern als Königin Esther – kaum aber als Esthers Vorgängerin, die verbannte Königin Vashti. Dies widerspiegelt die rabbinische Interpretation der beiden Königinnen: Vashtis Verhalten – ihre Weigerung, den betrunkenen Gästen des Königs ihre Schönheit zu zeigen – interpretierten die Rabbinen negativ, während sie Esthers Verhalten idealisierten. 

Nun sind aus jenen kleinen jüdischen Mädchen, die sich als Königin Esther verkleideten, manchmal ausgewachsene Feministinnen geworden, die ihrer Verpflichtung, an Purim die Megillat Esther zu lesen, recht kritischen Sinns nachgehen. Wichtig wird für sie die Begründung, mit der König Achaschwerosch seine Frau Vashti verbannt: «Nicht den König allein hat die Königin Vashti beleidigt, sondern alle Fürsten [...] Denn das Wort der Königin wird sich bei allen Frauen verbreiten und ihre Ehemänner in ihren Augen herabsetzen, indem es heissen wird, König Achaschwerosch hat befohlen, die Königin Vashti vor ihn zu bringen, und sie kam nicht» (Esther 1. 16 f.).

Wird die Verbannung Vashtis bekannt, „so werden alle Frauen ihren Ehemännern Ehrerbietung bezeigen, vom Vornehmsten bis zum Geringsten" (Esther 1. 20). Die jüdische Feministin Mary Gendler dazu: „Männer wurden als Herren ihres Hauses und der Gesellschaft im Allgemeinen gesehen [...] Die Botschaft kommt durch: Frauen, welche mutig, direkt, aggressiv und ungehorsam sind, sind inakzeptabel. Lobenswert hingegen sind jene Frauen, die bescheiden sind, auf leise Art hartnäckig, und ihre Macht durch die Liebe erhalten, die sie in Männern erwecken."

Feministinnen entdeckten nun Vashti als Vorbild für ihren Widerstand gegen männliche Autorität, das Patriarchat. Vashti begann ihnen viel besser zu gefallen als Esther, die ihnen als Modell der liebenswürdigen, angepassten und folgsamen jüdischen Frau erschien, die sie nicht mehr sein wollten. Sie wollten aber nicht dasselbe tun wie die Rabbinen, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Sie wollten nicht Vashti weiss und Esther schwarz zeichnen.

Mary Gendler schreibt: «Ich schlage vor, dass Vashti wieder auf den Thron gesetzt wird, zusammen mit ihrer Schwester Esther, damit sie zusammen die Seelen und Handlungen von Frauen leiten. Frauen, welche die Attribute dieser ungewöhnlichen Frauen in sich vereinen – Schönheit gemildert durch Charme, Stolz gedämpft durch Demut, Unabhängigkeit kontrolliert durch herzliche Treue, Mut, Würde – solche Frauen werden ganzheitlicher sein als jene, weiche versuchen, Esther nachzueifern.»

Für Penina V. Adelman sind Vaschti und Esther „dynamische Gegensätze"und «verkörpern zwei Stadien feministischen Bewusstseins. Das erste Stadium, durch Vashti symbolisiert, ist ein Stadium des Widerstandes. In diesem Stadium kämpfen Frauen, um ein Selbstwertgefühl zu erlangen, das nicht mehr erschüttert werden kann. Das zweite Stadium, durch Esther symbolisiert, ist ein Stadium politischer Strategien. Gefestigter in ihrer sozialen Stellung, kann Esther langfristige Ziele ins Auge fassen.» Dadurch, dass sie ihren Mann dazu bringt, ihr zu gehorchen, und zwar zum von ihr bestimmten Zeitpunkt, rettet sie nicht nur das jüdische Volk. Sie ist, quasi als Nebenprodukt dieser Rettungsaktion, auch Vorbild dafür, wie sich Frauen gegen die Unterdrückung ihrer Ehemänner wehren können.

Rabbinerin Lynn Gottlieb erinnert, dass Esther Hoffnungsträgerin für die Marranen war. Viele Marranen praktizierten ihr Judentum im Geheimen. „Die Frauen der Marranen-Gemeinden sahen sich als Königin Esther", indem sie versteckt ein jüdisches Leben führten, während sie nach aussen als Christinnen lebten. „Sie leiteten Gemeindegebete, führten Trauungen durch und entwickelten Rituale rund um das Fasten Esther, welches zu einem Hauptfeiertag der ‚conversos‘ wurde." 
                                                                                                                                  Wenn die Rabbinen Esther auch idealisiert haben, ist sie keine Heilige, da sie nicht zum König geht, um für die Rettung der Juden zu bitten. So lässt ihr Mordechai sagen: «Bilde dir nicht ein, im königlichen Palast allein von allen Juden der Gefahr zu entgehen! Denn wenn du schweigst, so wird Hilfe und Rettung den Juden von einer andern Seite her erstehen; du aber und dein väterliches Haus, ihr werdet zugrunde gehen. Wer weiss denn, ob du nicht um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gelangt bist?» (Esther 4. 13–14) Worauf Esther Rettungsstrategien entwickelt. Die orthodoxe Feministin Blu Greenberg: «Es gibt viele engagierte Juden und Jüdinnen, die denken, die assimilierten seien alle verloren. Für immer. Esther riskierte ihr Leben, um ein Volk aus grösster Gefahr zu retten, zu dem sie den Kontakt praktisch verloren hatte.»

aus: Marianne Wallach-Faller: Die Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen, herausgegeben von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt, mit einem Vorwort von Eveline Goodman-Thau und Marie-Theres Wacker, Chronos-Verlag Zürich 2000, wieder veröffentlicht im JLG-Luchot 305,    März - Juni 2011